the most important thing
Billboard exhibition with Christian Rothmaler
Lübeck Central Station, 2023
Nur als Symbionten haben wir eine Zukunft
Wie die meisten Bahnhöfe ist der Lübecker Hauptbahnhof mit seiner vierschiffigen Bahnsteighalle, silbernen Stahlbögen und breiten Holztreppen ein Ort relativer Extreme. Ankunft, Abschied, Anonymität, ermüdendes Warten und hitzige Wettrennen um die Zeit wechseln sich ab, ein kalter Wind fegt über die Plattform und fängt sich in vagen Erinnerungen an die sommerlich stehende Schwüle unter dem Glasdach. Industrielle Nostalgie trifft auf die Corporate Identity der Deutsche Bahn. Auf vier großen Plakatwänden, die beidseitig bespielt sind und sich an vier Bahnsteigen gestaffelt gegenüberstehen, zeigen die Künstler Anton Engel und Christian Rothmaler jeweils vier Arbeiten. Fällt der Blick Richtung Norden, sieht man die auf das Format der Werbetafel vergrößerten Repros der Zeichnungen von Anton Engel, geht der Blick Richtung Süden erscheinen dort Christian Rothmalers Malereien, die ebenfalls auf die Plakatflächen vergrößert wurden.
Die Zeichnungen zeigen zerbrochene Scheiben, ein gesprungenes Display, ein Netzwerk aus Rissen oder eine aufgebrochene Landschaft. Womöglich sind sie durch Einflüsse von Außen ausgelöst worden, durch Wetterbedingungen, durch einen winzigen Sprengkörper oder einen auf die glatte Oberfläche einpickenden Specht. Anton Engel zeichnet vier brüchige Oberflächen in unterschiedlichem Licht, ein Zustand scheint im Begriff des Untergangs eingefroren, der andere einem langwierigen Prozess ausgeliefert – eine Schnecke überquert gemächlich das Geschehen und hinterlässt ihre schleimige Spur. Auf den Rückseiten kehren sich die Dimensionen und Blickführungen ins Große und Ganze. Christian Rothmaler malt eine glühende Sonne, siebenfingrige Hände, die ein weißes Blatt mit der Aufschrift THE einmal dem Mond, einmal der Sonne entgegenhalten und ein Schwarzes Loch – bezugnehmend auf die Abbildungen eines Schwarzen Lochs im Zentrum der Milchstraße, wie es erstmals 2022 anhand vieler weltweit gekoppelter Radioteleskope abgebildet werden konnte.
Es wird Tag und es wird Nacht auf den Bildern in ihren unterschiedlichen Lichtsituationen, und auf dem Bahnsteig, der sie umgibt. Die Arbeiten stehen im engen Dialog miteinander und spannen sich auf zwischen Utopie und Dystopie, zwische Zerstörung und Neuanfang, Mikrokosmos und dem Universum, zwischen kühlem Glas und brennenden Sternen, zwischen Erschöpfungszuständen und Energiewirtschaft.
Die Wissenschaftstheoretikerin und feministische Autorin Donna Haraway beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Leben in Zukunft auf der beschädigten Erde möglich sein wird. Hierfür etabliert sie den Begriff des Chthuluzän, das Zeitalter fortdauernden Lernens. Wir werden nicht als Individuen überleben, sondern nur im Mit-Werden mit anderen Arten, als Symbionten, schreibt Haraway. Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht. Denn der Anlass ist ernst: Wir sind dabei, den Planeten durch Raubbau, Überproduktion und Überbevölkerung nachhaltig zu zerstören. In dieser Situation sei weder Technikoptimismus noch zynische Endzeitstimmung die angemessene Haltung – stattdessen müssten wir unruhig bleiben und aus der alten, patriarchalen Erzählung, in dem der einzelne Held raumgreifend die Feinde besiegt, aussteigen und mit den Tieren zusammenrücken in engster Gemeinschaft. (Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Original: 2016).
Was befindet sich hinter den zersplitterten Scheiben, und was hinter dem umfassenden THE, das sich in der englischen Sprache einer geschlechtsspezifischen Zuordnung entzieht und sich auf den begehrten Mond, The Moon als spekulativ neuer Lebensraum oder auf The End beziehen könnte, oder lediglich auf eine Lücke der Sprachlosigkeit? Sind die sieben Finger vielleicht die Verbildlichung einer Symbiose, wie Haraway sie versteht? Was hält das System jetzt und in Zukunft im Kern zusammen? Der Specht bricht mit dem glatten Regelwerk von Unverbindlichkeiten, die Schnecke hingegen ist versucht, jenes in einer neuen durchlässigeren Form mit ihrem Schleim zusammenzuflicken.
EN
Like most train stations, Lübeck Central Station, with its four-aisle platform hall, silver steel arches and wide wooden stairs, is a place of relative extremes. Arrivals, farewells, anonymity, tedious waiting and heated races for time change alternately. A cold wind sweeps across the platform and catches in vague memories of the summer sultriness under the glass roof. On four large doublesided billboards, located on the four platforms of the station, the artists Anton Engel and Christian Rothmaler are each showing four works. Looking north, one sees reproductions of Anton Engel's drawings enlarged to the size of the billboard; looking south, one sees Christian Rothmaler's paintings, also enlarged to the size of the billboard.
The drawings show broken glass, a cracked display, a network of fissures, a broken landscape. They may have been triggered by outside influences, weather conditions, a tiny explosive device, or a woodpecker pecking at the smooth surface. Anton Engel draws four fragile surfaces in different light. One state seems frozen in the moment of doom, the other whitnessing a lengthy process - a snail leisurely crosses the action, leaving its slimy trail behind. On the reverse sides of the posterboards, the dimensions and lines of sight lead to a bigger context. Christian Rothmaler paints a glowing sun, seven-fingered hands holding a bright sheet with the inscription THE, once towards the sun, once towards the moon and a black hole – referring to the images of a black hole in the center of the Milky Way, as it could be imaged for the first time in 2022 by means of many radio telescopes coupled worldwide.
It becomes day and it becomes night in the images with their different light situations – like on the platforms that surround them. The works are in close dialogue with each other spanned between utopia and dystopia, between destruction and new beginnings, the microcosm and the universe, between cool glass and burning stars, between states of exhaustion and energy economy.
The science theorist and feminist author Donna Haraway is concerned with the question of how life will be possible in the future on a damaged planet Earth. For this she establishes the concept of Chthuluzän, the age of continuous learning. We will not survive as individuals, but only in co-becoming with other species, as symbionts, Haraway writes. We become - with each other or not at all. The matter is serious: we are in the process of destroying the planet through overexploitation, overproduction and overpopulation. In this situation, she argues, neither technological optimism nor cynical doomsday sentiment is the appropriate attitude. Instead, we must remain restless and step out of the old patriarchal narrative, in which the lone hero defeats the enemies, and get together with the animals in closest companionship. (Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, 2016).
What is hiding behind the fragmented panes, and what stands behind the all-encompassing THE, which in English defies gender classification? Is it referring to the much-coveted moon, The Moon as a speculative new habitat, or to The End, or merely to a gap of speechlessness? Could the seven fingers be the visualization of a symbiosis as Haraway understands it? What keeps the system together at its core, now and in the future? The woodpecker breaks with the slick rules of non-commitment, while the snail is tempted to patch them up in a new, more permeable form with its slime.
(Text: Lisa Klosterkötter, 2023)
Das Projekt wurde gefördert durch Kulturfunke*
the most important thing
Billboard exhibition with Christian Rothmaler
Lübeck Central Station, 2023
Nur als Symbionten haben wir eine Zukunft
Wie die meisten Bahnhöfe ist der Lübecker Hauptbahnhof mit seiner vierschiffigen Bahnsteighalle, silbernen Stahlbögen und breiten Holztreppen ein Ort relativer Extreme. Ankunft, Abschied, Anonymität, ermüdendes Warten und hitzige Wettrennen um die Zeit wechseln sich ab, ein kalter Wind fegt über die Plattform und fängt sich in vagen Erinnerungen an die sommerlich stehende Schwüle unter dem Glasdach. Industrielle Nostalgie trifft auf die Corporate Identity der Deutsche Bahn. Auf vier großen Plakatwänden, die beidseitig bespielt sind und sich an vier Bahnsteigen gestaffelt gegenüberstehen, zeigen die Künstler Anton Engel und Christian Rothmaler jeweils vier Arbeiten. Fällt der Blick Richtung Norden, sieht man die auf das Format der Werbetafel vergrößerten Repros der Zeichnungen von Anton Engel, geht der Blick Richtung Süden erscheinen dort Christian Rothmalers Malereien, die ebenfalls auf die Plakatflächen vergrößert wurden.
Die Zeichnungen zeigen zerbrochene Scheiben, ein gesprungenes Display, ein Netzwerk aus Rissen oder eine aufgebrochene Landschaft. Womöglich sind sie durch Einflüsse von Außen ausgelöst worden, durch Wetterbedingungen, durch einen winzigen Sprengkörper oder einen auf die glatte Oberfläche einpickenden Specht. Anton Engel zeichnet vier brüchige Oberflächen in unterschiedlichem Licht, ein Zustand scheint im Begriff des Untergangs eingefroren, der andere einem langwierigen Prozess ausgeliefert – eine Schnecke überquert gemächlich das Geschehen und hinterlässt ihre schleimige Spur. Auf den Rückseiten kehren sich die Dimensionen und Blickführungen ins Große und Ganze. Christian Rothmaler malt eine glühende Sonne, siebenfingrige Hände, die ein weißes Blatt mit der Aufschrift THE einmal dem Mond, einmal der Sonne entgegenhalten und ein Schwarzes Loch – bezugnehmend auf die Abbildungen eines Schwarzen Lochs im Zentrum der Milchstraße, wie es erstmals 2022 anhand vieler weltweit gekoppelter Radioteleskope abgebildet werden konnte.
Es wird Tag und es wird Nacht auf den Bildern in ihren unterschiedlichen Lichtsituationen, und auf dem Bahnsteig, der sie umgibt. Die Arbeiten stehen im engen Dialog miteinander und spannen sich auf zwischen Utopie und Dystopie, zwische Zerstörung und Neuanfang, Mikrokosmos und dem Universum, zwischen kühlem Glas und brennenden Sternen, zwischen Erschöpfungszuständen und Energiewirtschaft.
Die Wissenschaftstheoretikerin und feministische Autorin Donna Haraway beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Leben in Zukunft auf der beschädigten Erde möglich sein wird. Hierfür etabliert sie den Begriff des Chthuluzän, das Zeitalter fortdauernden Lernens. Wir werden nicht als Individuen überleben, sondern nur im Mit-Werden mit anderen Arten, als Symbionten, schreibt Haraway. Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht. Denn der Anlass ist ernst: Wir sind dabei, den Planeten durch Raubbau, Überproduktion und Überbevölkerung nachhaltig zu zerstören. In dieser Situation sei weder Technikoptimismus noch zynische Endzeitstimmung die angemessene Haltung – stattdessen müssten wir unruhig bleiben und aus der alten, patriarchalen Erzählung, in dem der einzelne Held raumgreifend die Feinde besiegt, aussteigen und mit den Tieren zusammenrücken in engster Gemeinschaft. (Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Original: 2016).
Was befindet sich hinter den zersplitterten Scheiben, und was hinter dem umfassenden THE, das sich in der englischen Sprache einer geschlechtsspezifischen Zuordnung entzieht und sich auf den begehrten Mond, The Moon als spekulativ neuer Lebensraum oder auf The End beziehen könnte, oder lediglich auf eine Lücke der Sprachlosigkeit? Sind die sieben Finger vielleicht die Verbildlichung einer Symbiose, wie Haraway sie versteht? Was hält das System jetzt und in Zukunft im Kern zusammen? Der Specht bricht mit dem glatten Regelwerk von Unverbindlichkeiten, die Schnecke hingegen ist versucht, jenes in einer neuen durchlässigeren Form mit ihrem Schleim zusammenzuflicken.
EN
Like most train stations, Lübeck Central Station, with its four-aisle platform hall, silver steel arches and wide wooden stairs, is a place of relative extremes. Arrivals, farewells, anonymity, tedious waiting and heated races for time change alternately. A cold wind sweeps across the platform and catches in vague memories of the summer sultriness under the glass roof. On four large doublesided billboards, located on the four platforms of the station, the artists Anton Engel and Christian Rothmaler are each showing four works. Looking north, one sees reproductions of Anton Engel's drawings enlarged to the size of the billboard; looking south, one sees Christian Rothmaler's paintings, also enlarged to the size of the billboard.
The drawings show broken glass, a cracked display, a network of fissures, a broken landscape. They may have been triggered by outside influences, weather conditions, a tiny explosive device, or a woodpecker pecking at the smooth surface. Anton Engel draws four fragile surfaces in different light. One state seems frozen in the moment of doom, the other whitnessing a lengthy process - a snail leisurely crosses the action, leaving its slimy trail behind. On the reverse sides of the posterboards, the dimensions and lines of sight lead to a bigger context. Christian Rothmaler paints a glowing sun, seven-fingered hands holding a bright sheet with the inscription THE, once towards the sun, once towards the moon and a black hole – referring to the images of a black hole in the center of the Milky Way, as it could be imaged for the first time in 2022 by means of many radio telescopes coupled worldwide.
It becomes day and it becomes night in the images with their different light situations – like on the platforms that surround them. The works are in close dialogue with each other spanned between utopia and dystopia, between destruction and new beginnings, the microcosm and the universe, between cool glass and burning stars, between states of exhaustion and energy economy.
The science theorist and feminist author Donna Haraway is concerned with the question of how life will be possible in the future on a damaged planet Earth. For this she establishes the concept of Chthuluzän, the age of continuous learning. We will not survive as individuals, but only in co-becoming with other species, as symbionts, Haraway writes. We become - with each other or not at all. The matter is serious: we are in the process of destroying the planet through overexploitation, overproduction and overpopulation. In this situation, she argues, neither technological optimism nor cynical doomsday sentiment is the appropriate attitude. Instead, we must remain restless and step out of the old patriarchal narrative, in which the lone hero defeats the enemies, and get together with the animals in closest companionship. (Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, 2016).
What is hiding behind the fragmented panes, and what stands behind the all-encompassing THE, which in English defies gender classification? Is it referring to the much-coveted moon, The Moon as a speculative new habitat, or to The End, or merely to a gap of speechlessness? Could the seven fingers be the visualization of a symbiosis as Haraway understands it? What keeps the system together at its core, now and in the future? The woodpecker breaks with the slick rules of non-commitment, while the snail is tempted to patch them up in a new, more permeable form with its slime.
(Text: Lisa Klosterkötter, 2023)
Das Projekt wurde gefördert durch Kulturfunke*